Ost, Osten, am östlichsten: Der lange Weg zum Baikalsee


14. Juni 2017:

Kaum sind wir im asiatischen Teil Russlands angekommen, ändern sich die Menschen: immer noch extrem verschlossen, aber hin und wieder werden wir angelächelt, auf unser Auto angesprochen und siehe da, es klappt sogar mit Englisch (wenngleich ziemlich rudimentär, aber sie geben sich wirklich Mühe!).

Unsere Bettlektüre besteht derzeit aus dem spannenden Thriller "Die Romanow Prophezeiung" von Steve Berry, der die Ermordung der letzten Zarenfamilie 1918 durch die Bolschewisten zum Thema hat. Daher treibt uns pure Neugierde zum Kloster Ganina Jama, wo die sterblichen Überreste der ehemaligen Herrscherfamilie gefunden wurden. Ein lohnender Abstecher, die sieben Holzkirchen, eine für jedes getötete Familienmitglied, liegen anmutig inmitten eines Birkenwaldes, die Fundstelle ist markiert, eine weinende Russin legt Blumen am Denkmal nieder.

Unser letzter Frust der vergangenen Woche wird in den 34 Grad warmen, rostbraunen Mineralquellen abgespült, die wir bei Tjumen finden. Faul liegen wir im warmen Wasser und genießen darüber hinaus endlich mal einen richtigen Campingplatz (!), der den Quellen angeschlossen ist. Es ist Wochenende und die vielen Russen aus der nahen Großstadt freuen sich mit wahren Grillfesten über das schöne Wetter. Schaschlikfleisch ist ein Nationalgericht, es wird an jeder Ecke und jeder Fernfahrerraststätte angeboten.

Derart erholt rollen wir weiter Richtung Osten. Zwei Tage später fahren wir in die Studentenstadt Tomsk. Mit Entsetzen stellen wir dort fest, dass wir die Uhr wieder eine Stunde vorstellen müssen. Russland hat acht Zeitzonen! Seit Moskau haben wir die Uhr bereits drei Mal um eine Stunde vorgestellt, nun also ein weiteres Mal. Beide denken wir gequält an den nächsten Morgen, wenn uns wieder eine Stunde geklaut wird. Und immer scheint morgens bereits um vier Uhr die Sonne durch unsere Dachluke, unabhängig von den vielen Zeitumstellungen. Wie das sein kann? Wir fahren schließlich immer weiter Richtung Osten!

Die Altstadt von Tomsk besticht nicht nur durch die unverwechselbare Sowjetarchitektur und die vielen Parks und kleinen Oasen, sondern auch durch alte Holzhäuser, die nach sibirischer Art mit verzierten Fenstern und Holzbordüren dekoriert sind. Und obwohl es fast Mitte Juni ist, stehen die Tulpen in ihrer schönsten Blüte, selbst Narzissen sehen wir hier und dort noch. Wir befinden uns in Westsibirien, wo der Frühling erst spät Einzug hält!

Und dann passieren diese Zufälle, die eine solche Reise so besonders machen. Unser Reiseführer erwähnt drei weitere Holzhäuser, die man nicht verpassen sollte. Auf der Suche nach ihnen stoßen wir auf einen Rummelplatz und genießen den Trubel und vergessen darüber die Zeit. Es ist bereits später Nachmittag, Tomsk ist eine 500.000 Einwohner zählende Großstadt und wir haben keine Idee, wo wir die Nacht sicher verbringen sollen. Der Wind frischt auf, wir suchen weiter. Wir beschließen nur noch bis zur nächsten Ecke zu laufen und dann schleunigst zurück zum Auto, wenn wir die Häuser jetzt nicht finden. Wir haben Glück, in der nächsten Straße entdecken wir die imposanten Bauten. Eines davon ist das Russisch-Deutsche Haus und dort lädt das offene Tor zum Eintreten ein. Kurzentschlossen betreten wir erst den beeindruckenden kleinen Park des Anwesens und gleich darauf auch das Haus. Der Direktor Alexander Heier heißt uns in akzentfreiem Deutsch herzlich Willkommen. Seine Vorfahren sind Wolgadeutsche, die erst nach Kasachstan vertrieben und sich anschließend in Tomsk niedergelassen haben. Wir plaudern angeregt, es werden Fotos gemacht und dann dürfen wir nicht nur die Nacht sicher im abgeschlossenen Hof verbringen, am nächsten Morgen können wir auch noch die heißen Duschen im Haus nutzen und der zweite Direktor Nikolai Loginow begrüßt uns ebenfalls. Schnell wird ein Interview mit uns geführt und uns zum Abschied ein Bildband überreicht. Begeistert von dieser netten Begegnung und Gastfreundschaft setzen wir unsere Fahrt Richtung Osten fort.

Und der Zufall hält an. Nach dem Regen der vergangenen Nacht steht alles unter Wasser. Am Abend wollen wir nicht abseits der Straße übernachten, um nicht im Matsch hängen zu bleiben. Wir steuern eine Fernfahrerraststätte an, doch auch dort ist alles voller Matsch, so dass wir weiterfahren. Wir nähern uns der Millionenstadt Krasnojarsk, wo sollen wir bleiben? Wir finden zwar Raststätten entlang der Hauptstraße, aber keine sicheren Parkplätze. Klaus findet ein Picknick-Piktogram auf seinem Navi und wir biegen ab. Es ist schon spät und wir finden tatsächlich ein nettes Plätzchen in einem der in Russland beliebten Erholungsparks. Der Nachtwächter hält ein Auge auf uns, während wir todmüde von der langen Fahrt in unser Bett fallen.

Und weiter geht es mit dem Zufall: Der Reiseführer berichtet von einem Nationalpark südwestlich Krasnojarsks, ein beliebtes Wandergebiet der Städter und im Winter ein Skigebiet. Das war es auch schon mit den Informationen, das Navi ist wieder gefragt und wir stoßen auf die Skilifte und fahren auf gut Glück dorthin. Der Parkplatzwächter lässt uns exotischen Gäste umsonst passieren und schon stehen wir am Fuße der drei Sessellifte. Wir schnüren unsere Wanderschuhe, aber es ist nicht ersichtlich, ob es oben Wandermöglichkeiten gibt. Wir ignorieren das "Durchgang verboten" Schild und wandern eine Skipiste hinauf, die sich steil in die Höhe windet. Ahh, was für eine Wohltat nach den unzähligen Stunden im Auto! Oben kommen wir schnaufend an und vor uns liegt ein Wegenetz für Wanderungen zu den pittoresken Granitfelsen mit Ausblicken über den dicht bewaldeten Nationalpark. Herrlich! Gemütlicher geht es mit dem Sessellift nach mehrstündiger Wanderung zum Auto zurück. Und natürlich durch Zufall finden wir nur acht km entfernt einen weiteren Erholungspark und einen idyllischen Stellplatz für die nächsten zwei Nächte an einem laut rauschenden Bach, während die Russen neben uns wieder ihre Schaschlick-Grillfeste veranstalten. Ja, wir haben unseren Frieden mit Russland gefunden!

Auf der einzigen Hauptverbindungsstraße von West nach Ost, der wir seit Moskau folgen, geht es weiter Richtung Osten, wir fahren durch größtenteils sumpfige Tiefebene entlang Birkenwäldern, vielen Seen, Tümpeln, Bächen und Flüssen, gelegentlich durch landwirtschaftlich genutzten Flächen, Feldern gigantischer Größe. Die Landschaft bleibt seit über 6.000 km gleich. Selbst den mächtigen Ural, der Europa von Asien trennt, überqueren wir an seinem äußeren Rand, was sich lediglich durch wenige Hügel bemerkbar macht. Und überall ertönt der Ruf des Kuckucks, wenn wir das Auto verlassen. Bei Krasnojarsk, also nach 6.100 km, ändert sich endlich die Landschaft. Es wird zusehends hügeliger und immer mehr Nadelgehölz mischt sich unter die endlosen Birkenwälder, bis diese kurz vor Erreichen des Baikalsees die Überhand bekommen.

Und nach über 8.100 km, seitdem wir in Berlin unsere Pässe mit den Russlandvisa abgeholt haben und 6.700 km seit Grenzübertritt nach Russland erreichen wir Irkutsk, das Tor zum Baikalsee - unser zweites großes Ziel nach Moskau, wo wir die Uhr ein letztes Mal um eine Stunde vorstellen und nun sechs Stunden vor Deutschland sind!





(zum Vergrößern einfach auf die Fotos klicken)


zum Seitenanfang